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PolitikIsrael

"Israels Armee ist jetzt politisiert"

25. Juli 2023

In Israel stellen sich auch Teile des Sicherheitsapparats gegen die Justizreform der rechts-religiösen Regierung. Diese Politisierung ist neu, sagt Peter Lintl von der Stiftung Wissenschaft und Politik im DW-Interview.

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Israelische F16-Kampfjets zeigen anlässlich des "Memorial Day" 2021 ihr Können am Himmel - im Vordergrund des Fotos sind zwei israelische Flaggen zu sehen
Zuletzt positionierten sich auch Teile der Streitkräfte zum Umbau der Judikative in IsraelBild: Nir Alon/ZUMA Wire/picture alliance

Israels rechts-religiöse Regierung macht weiter Ernst mit ihrem tiefgreifenden Umbau der Judikative: Die Knesset hat in einer finalen Abstimmung gebilligt, dass das Oberste Gericht künftig nicht mehr Gesetze als "unangemessen" außer Kraft setzen können soll. Dieses war bisher eine wichtige Kontrollinstanz in dem Neun-Millionen-Einwohner-Land, das weder eine zweite Parlamentskammer noch eine föderale Aufteilung der Kompetenzen besitzt.

Weite Teile der Bevölkerung gehen dagegen auf die Barrikaden - und zuletzt schlossen sich auch Angehörige des Militärs und der Geheimdienste dem Protest an. Zehntausende Reservisten aus verschiedenen Bereichen wollen nicht mehr zum Dienst erscheinen. Was das für Israel bedeutet, erklärt Peter Lintl von der Stiftung Wissenschaft und Politik im DW-Interview.

Die Armee als Schmelztiegel

Politologe Peter Lintl
Peter Lintl ist Wissenschaftler der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)Bild: swp-berlin.org

DW: Warum ist Protest aus den Reihen der Armee und des Sicherheitsapparats gerade für Israel so außergewöhnlich?

Peter Lintl: Die israelischen Streitkräfte gelten als Volksarmee. Sie waren lange Zeit der Schmelztiegel, der eine Gesellschaft, die aus allen Teilen dieser Welt stammt, zusammengeführt hat. Und die Armee war bis dato immer unpolitisch. Reservisten berufen sich auf einen informellen Gesellschaftsvertrag, der zwischen Armee, Staat und Reservisten geschlossen wurde: Man dient für das Wohl dieses Staates, aber gleichzeitig natürlich auch, dass die Rechte und demokratischen Spielregeln der von der Regierung eingehalten werden. Das ist aus Sicht vieler Reservistinnen und Reservisten jetzt zum ersten Mal gebrochen, und deswegen kommen sie nicht mehr zum Dienst.

Wer sind diese Einheiten, und wie fällt das bei den Streitkräften insgesamt ins Gewicht?

Bei den Landstreitkräften sind die Reservisten zahlenmäßig nicht so wichtig. Wichtig sind hier in diesem Fall jene, die an Schlüsselpositionen sitzen, insbesondere bei der Luftwaffe. Sie ist ganz zentral auf die Reservistinnen und Reservisten angewiesen. Dazu kommt, dass insbesondere die Kampfpiloten gesetzlich wöchentlich zum Training antreten müssen. Wenn sie nicht kommen, dann haben sie erstmal den Flugbereitschafts-Status verloren.

Deutschland Düren | Luftwaffen-Übung Blue Wings 2020
Israelische Kampfpiloten müssen regelmäßig ins Cockpit, um als flugbereit zu gelten - hier in Düren während einer deutsch-israelischen Übung 2020Bild: R4223/picture alliance

Das heißt, viele Kampfpiloten könnten schon bald nicht mehr fliegen dürfen?

In so einem Fall könnten Sonderregeln gefunden werden. Für den Alltag dürfte es erstmal keine massiven Auswirkungen geben, solange Israel nicht in einen unmittelbaren Konflikt verwickelt ist. Mittel- und langfristig kann das aber durchaus weitreichende Konsequenzen haben, auch darüber hinaus, wenn sich Personen aus anderen Schlüsselabteilungen wie Sicherheitsapparat oder Cyber zurückziehen. Das kann schon Konsequenzen haben.

Eine weitere Konsequenz ist, dass die Armee jetzt nachhaltig politisiert ist. Das heißt, falls irgendwann einmal eine Mitte-Links-Regierung an die Macht kommen sollte, Frieden mit den Palästinensern schließen und Siedlungen zurückziehen würde, dann würden womöglich die Rechten innerhalb der Reservistinnen und Reservisten ihren Dienst verweigern. Die Armee ist jetzt politisiert, und das ist eine Kluft, die sehr schwer zu überwinden sein wird.

Auf dem Weg in die Staatskrise?

Eine Armee, die sich in politische Fragen einmischt - verändert dieser Schritt gerade das Staatsgefüge insgesamt?

Genau, eine solche Politisierung der Armeeeinheiten gab es bis dato noch nicht. Heute haben wir gehört, dass angeblich der Chef des Auslandsgeheimdiensts Mossad gesagt haben soll, der Mossad wird im Zweifelsfall auf der richtigen Seite der Geschichte stehen - also der der Rechtsstaatlichkeit. Was das genau bedeutet, muss man sehen. Aber das wäre eine bemerkenswerte Aussage.

Israel | Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und David Barnea Mossad Direktor
Mossad-Chef David Barnea im April gemeinsam mit Ministerpräsident Benjamin NetanjahuBild: Kobi Gideon/GPO/dpa/picture alliance

Zunächst einmal könnte der Oberste Gerichtshof sich mit der Angemessenheitsklausel befassen - die für ihn selbst einen Kompetenzverlust bedeuten würde. Was passiert, wenn er die Klausel für unwirksam erklärt?

Sollte der Oberste Gerichtshof die Klage annehmen und tatsächlich auch das Gesetz als Änderung am Grundgesetz aufheben, dann kommen wir in ein Szenario, wo es ein Legitimitätsvakuum und eine Staatskrise geben wird. Dann ist nicht mehr klar, welche der beiden Einrichtungen - das Parlament oder der Oberste Gerichtshof - jetzt mehr Legitimität hat.

Aber die Rechtswissenschaftlerinnen sind uneins, wie wahrscheinlich es ist, dass der Oberste Gerichtshof in diesem konkreten Fall das Gesetz aufheben wird.

Knesset verabschiedet Kernelement der Justizreform

Sollte Israel tatsächlich in eine Staatskrise geraten, könnte die neue Politisierung innerhalb des Sicherheitsapparats dann sogar einen Putsch in denkbare Nähe rücken?

Das sehe ich nicht. Ich war sehr überrascht, als ich das kolportierte Statement des Mossad-Chefs gehört habe - vielleicht ist das aber auch nur Dienstverweigerung. Einen Putsch, so wie er in der Türkei 2016 versucht wurde, kann ich mir in Israel nicht vorstellen. Die Armee ist dem Parlament und der Regierung untergeordnet. Das war immer so in Israel, und es hat auch nie Zweifel daran gegeben.

Unsicherheit, Brain Drain und kaum ein Ausweg

Die derzeitige Situation bedeutet ja auch einen Moment der Schwäche, den Israels Feinde ausnutzen könnten. Entsteht infolge der Justizreform gerade ein konkretes Bedrohungspotenzial für Israels Sicherheit?

Sollte jetzt wirklich einen Konflikt ausbrechen, wäre ich mir eigentlich relativ sicher, dass die Reservistinnen und Reservisten wieder zum Dienst erscheinen würden. Aber tatsächlich hat der Iran das mitbekommen. Berichten zufolge gibt es Bemühungen von von iranischen Social-Media-Aktivisten, die sich sowohl als Pro-Regierungs-Gruppen ausgeben als auch Oppositionsgruppen. Sie versuchen, den Streit innerhalb der israelischen Gesellschaft weiter anzuheizen.

Israel | Justizreform | Protest
Sich der Staatsmacht in den Weg stellen - das macht dieser Demonstrant in Jerusalem nicht nur symbolischBild: Ariel Schalit/AP Photo/picture alliance

Vorläufig auf der Verliererseite der Justizreform stehen auch viele gut ausgebildete liberale Köpfe, etwa aus dem IT-Sektor, die einen großen Teil zu Israels Wirtschaftsleistung beisteuern. Wie groß ist die Gefahr eines "Brain Drain", also dass diese Gruppe ins Ausland abwandert?

Massiv! Ich war gerade erst für zehn Tage in Israel. Fast alle Mitglieder der Protestbewegung, mit denen ich gesprochen habe, schauen sich um: Sie versuchen, ausländische Pässe zu kriegen und überlegen, wohin sie gehen könnten. Dieser Brain Drain wird kommen, wenn die Reform durchgezogen wird. Das wird ganz massiven Schaden für Israel haben: für die Wirtschaft, die Kultur, die technologische Entwicklung und so weiter.

Ist dieser Weg aus Ihrer Sicht unumkehrbar, oder gibt es irgendwo die Möglichkeit eines Kompromisses?

Vielleicht gibt es Möglichkeiten, dass das Weitere aufgehalten wird. Das ist jetzt sicherlich auch das Bestreben der Protestbewegung: Weiterzumachen, damit nicht noch weitere Teile der Justizreform verabschiedet werden.

Auch wenn Netanjahu jetzt zu Kompromissen aufgerufen hat - niemand hat mehr Vertrauen in ihn, nicht einmal seine eigenen Koalitionäre. Ich glaube, es ist kaum mehr möglich, sinnvolle Kompromisse zu finden. Aber das werden die nächsten Wochen zeigen.

Das Interview führte David Ehl.