1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikNahost

Amnesty: Dunkle Bilanz bei Menschenrechten

24. April 2024

Angesichts der Lage in Gaza wirft Amnesty International der Bundesregierung und der EU Doppelmoral vor. Der neue Jahresbericht 2024 beklagt auch die Missachtung internationaler Übereinkommen.

https://p.dw.com/p/4f5R4
Gazastreifen | Humanitäre Situation | Zerstörung in Khan Yunis
Ein Blick auf Chan Junis im GazastreifenBild: Ali Jadallah/Anadolu/picture alliance

In dramatischen Worten beklagt Amnesty International (ai) die Lage der Menschenrechte weltweit und spricht von einem historischen Einschnitt. Dafür macht die Organisation in ihrem am Mittwoch (24.4.2024) vorgelegten Jahresbericht den Umgang der internationalen Politik mit der Eskalation im Nahen Osten und deren fehlendes Engagement zum Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung verantwortlich.

Die Bundesregierung dürfe keine Waffen an Israel und andere Konfliktparteien liefern, mahnte Julia Duchrow, die Generalsekretärin von ai Deutschland, bei der Vorstellung des Berichts. Ausdrücklich kritisierte sie den Kurs der deutschen Außenministerin. Annalena Baerbock betreibe entgegen eigener Aussagen keine menschenrechtsbasierte Außenpolitik und messe im Israel-Gaza-Konflikt "mit zweierlei Maß".

Kritik an "Doppelmoral" der Europäer im Nahen Osten

Im Bericht heißt es, für Menschen weltweit symbolisierten die "Ereignisse" im Gazastreifen "ein Versagen der Institutionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg für die Einhaltung des Universalitätsprinzips und die Achtung unserer gemeinsamen Menschlichkeit sorgen und das Versprechen 'Nie wieder‘ durchsetzen sollten". Dabei nennt ai neben israelischen Behörden und den USA "einige europäische" Staats- und Regierungschefs sowie die EU-Führungsriege. Aus deren Verhalten spreche "Doppelmoral".

Terrorangriff der Hamas auf Israel | Kibbutz Beeri
Dutzende Tote im Kibbutz Beeri - Opfer des Hamas-Terrors am 7. Oktober 2023Bild: JACK GUEZ/AFP

Mit Blick auf den Terror der Hamas am 7. Oktober 2023 spricht Amnesty von "schrecklichen Verbrechen". Dabei hatten Akteure der militanten islamistischen Hamas, die von den USA, der EU und einer Reihe weiterer Staaten als terroristisch eingestuft wird, etwa 1200 Menschen getötet und rund 240 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Amnesty verwendet nach Aussage von Julia Duchrow weder für die Hamas noch für andere Organisationen die Bezeichnung "Terror-Gruppe". Dieser Begriff sei völkerrechtlich nicht definiert.

Nach dem 7. Oktober habe Israel mit "Vergeltungsmaßnahmen" geantwortet, "die einer Kollektivbestrafung gleichkamen". Zivilpersonen und zivile Infrastruktur seien "vorsätzlich und unterschiedslos beschossen" worden, so die Anschuldigung. Die israelische Seite stelle die Angriffe so dar, "als wären sie mit dem humanitären Völkerrecht in Einklang. In Wirklichkeit verstießen sie gegen den Kern dieser Normen."

Gaza: Brot für die hungernde Bevölkerung

Für Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen sei die aktuelle Lage "sogar schlimmer" als die "Nakba" im Jahr 1948. Mit diesem arabischen Begriff für "Katastrophe" bezeichnen Palästinenser die Staatsgründung Israels, die damals nachfolgende kriegerische Auseinandersetzung und die Flucht und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung.

Amnesty, 1961 gegründet, wird seit gut zwei Jahren massiv von israelischer Seite und von jüdischen Organisationen kritisiert, weil es in einem Bericht Israel "Apartheid" vorgeworfen hatte. Israel wies den Vorwurf empört zurück und warf ai wiederholt vor, Antisemitismus zu fördern und den Konflikt einseitig zu betrachten.

Amnesty drängt seit längerem auf ein Ende der israelischen Besatzung der Palästinensergebiete einschließlich Ost-Jerusalems. Zugleich fordert die Organisation derzeit die Freilassung aller Geiseln durch die Hamas und andere palästinensische Gruppen und wirft der Hamas Kriegsverbrechen vor.

Welt macht "Zeitreise" in Jahre ohne Menschenrechte 

Amnesty-Generalsekretärin Agnes Callamard spricht in dem Bericht davon, die Welt habe gleichsam "eine Zeitreise gemacht" zurück in jene Jahre vor 1948, in der es keine als allgemeingültig festgeschriebenen Menschenrechte gegeben habe. "Ethische und rechtliche Grundfeste" seien im Jahr 2023 erschüttert worden, so die Französin Callamard. Das untergrabe in zahlreichen Ländern die Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, die Gleichstellung der Geschlechter und die sexuellen und reproduktiven Rechte.

Agnes Callamard Amnesty International
Agnes Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty InternationalBild: Michel Euler/AP/picture alliance

Auch die russische Aggression gegen die Ukraine und chinesische Verstöße gegen das Völkerrecht werden in dem Bericht zum Thema. So sei der russische Angriff auf die Ukraine "durchgehend von Kriegsverbrechen gekennzeichnet". Konkret nennt ai die Folter und Misshandlung von Kriegsgefangenen, Attacken auf bewohnte Gebiete, Infrastruktur für zivile Energie und Getreideexporte sowie die vorsätzliche Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Juni 2023, die "enorme Umweltschäden" zur Folge gehabt habe. Als weiteres Beispiel für die weitgehende Missachtung des humanitären Völkerrechts nennt ai den Krieg im Sudan, in dem beide Seiten Verstöße begingen.

Autoritäre Systeme auf dem Vormarsch, Frauenrechte unter Druck

Weiter beklagt Amnesty wachsenden Druck auf Menschen, die sich für wirtschaftliche und soziale Rechte einsetzten. Das gelte beispielsweise für Großbritannien, Ungarn und Indien. So würden Akteure, die sich für den Klimaschutz engagierten und den Ausbau fossiler Brennstoffe kritisierten, als "‘Terrorist*innen‘ gebrandmarkt". Im Nahen Osten führe Kritik an der jeweiligen Wirtschaftspolitik zu willkürlichem Gewahrsam. Insgesamt beklagt ai in dem Bericht ein weltweites Erstarken autoritärer Systeme. Immer weniger Menschen lebten in einer Demokratie als Gesellschaftsform, heißt es.

Ein Polizeifahrzeug der sog. Moralpolizei mit mehreren Einsatzkräften.
Jagd auf Frauen ohne Kopftuch - die sogenannte Moralpolizei im IranBild: Tabnak

Mit Blick auf Rechte von Frauen beklagt Amnesty weitere Einschränkungen in Afghanistan und dem Iran. Der Iran setze auch Gesichtserkennungs-Software gegen Frauen ein, die sich nicht verschleierten. Zudem sprach ai von negativen Entwicklungen in den USA und Polen bei der gesetzlichen Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen. So seien in 15 US-Bundesstaaten Abtreibungen ganz verboten oder nur in absoluten Ausnahmefällen zugelassen. Mit Besorgnis verweist der Bericht auch auf die mehr als 60 Länder weltweit, in denen LGBTQ-Menschen in ihren Rechten eingeschränkt seien und kriminalisiert würden.

Weiter thematisiert Amnesty die Gefahren neuer Technologien und der "künstlichen Intelligenz" (KI). Man bewege sich "immer schneller" auf eine Zukunft hin, die von Konzernen und unregulierter KI "beherrscht wird". Mit Blick auf neue Technologien beklagt Amnesty "Verstöße durch Tech-Giganten", die "für kommende Zeiten nichts Gutes erahnen" ließen. 

Ausdrücklich beklagt ai den Anstieg von Juden- und Muslimfeindlichkeit im Netz. Die alarmierende Verbreitung von Hetze im Internet und anderen schädlichen Inhalten gegen palästinensische und jüdische Gemeinschaften habe auch in Europa und den USA zu einem "deutlichen Anstieg muslimfeindlicher und antisemitischer Hassverbrechen" geführt.

Der aktuelle ai-Jahresbericht umfasst 417 Seiten und erörtert die Lage der Menschenrechte in gut 150 Ländern.